Die Wohnung ist unverletzlich
Der ewige Kampf um die eigenen vier Wände: Art. 13 I GG und das Recht auf eine Wohnung
Nach 75 Jahren Grundgesetz in Deutschland, der Weiterentwicklung der Europäischen Union und in Zeiten der Globalisierung sind Freiheit, Frieden und Demokratie noch immer nicht selbstverständlich. Den Schutz der Grundrechte zu stärken und auszuweiten ist eine Aufgabe für die Ewigkeit.
Besondere Aufmerksamkeit in der heutigen Zeit verdient unser liebster Artikel des Grundgesetzes, Art. 13 Abs. 1 GG: „Die Wohnung ist unverletzlich.“
Zuhause in unserer Wohnung konzentriert sich unser Leben: Dort sind wir sicher, dort genießen wir unser privates Leben. Wir treffen uns mit Familie und Freunden, nach einem langen Arbeitstag faulenzen wir auf dem Sofa oder raffen uns vielleicht doch (zugegebenermaßen selten) zum Sport auf. Unter der Dusche drehen wir die Musik auf und singen lauthals mit – und werden dabei hoffentlich nicht gehört.
Zuhause in unserer Wohnung können wir unbeobachtet sein, wer und wie wir sind.
Art. 13 Abs. 1 GG schützt uns vor staatlichen Eingriffen in unsere räumliche Privatsphäre wie Durchsuchungen, Videoüberwachungen und Lauschangriffen. Er schützt alle Räume, die der allgemeinen Zugänglichkeit durch eine räumliche Abschottung entzogen sind und zur Stätte privaten Lebens und Wirkens gemacht wurden.
Aber was ist, wenn wir keine Wohnung haben? Die Wohnung ist unverletzlich, doch das Recht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung gibt uns kein Recht auf Wohnraum – so ein Bericht zum Recht auf Wohnen des Deutschen Bundestags. Ein Grundrecht für jedermann, das nicht für jedermann gelten kann. Ist das ein Manko unseres Grundgesetzes?
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales veröffentlichte am 8. Dezember 2022 den ersten Bericht zur Obdach- und Wohnungslosigkeit. Das Ergebnis: 262.600 Menschen in Deutschland waren zu dem Zeitpunkt wohnungslos, 38.500 Menschen obdachlos. Die Zahlen der Wohnungslosenhilfe ergaben in einer Hochrechnung, dass im Verlauf des Jahres 2022 607.000 Menschen wohnungslos waren, von denen ca. 50.000 Menschen auf der Straße lebten.
Doch die Dunkelziffer ist noch deutlich höher – nicht alle wohnungs- oder obdachlosen Menschen lassen sich erfassen.
Bei alldem bleibt der Blick hinter die Statistik am wichtigsten. Schließlich sind es Menschen wie wir, die keinen geschützten, eigenen Wohnraum haben oder auf der Straße leben. Im Winter sind obdachlose Menschen lebensgefährlicher Kälte ausgesetzt; das ganze Jahr über den Anfeindungen anderer Menschen. Sie haben keine Sicherheit für das eigene Hab und Gut. Die medizinische Grundversorgung ist mangelhaft. Aus der Wohnungslosigkeit herauszukommen ist aufgrund der vielen Vorurteile und Diskriminierungen schwierig. Ein Teufelskreis.
Währenddessen steigen die Mieten in beinahe allen Städten Deutschlands, ebenso wie die Kosten für den Lebensunterhalt – so stieg die Nettokaltmiete in München von 11,69 € pro Quadratmeter im Jahr 2019 um 24,7 Prozent auf 14,58 € pro Quadratmeter im Jahr 2023. Für eine 50 Quadratmeterwohnung bedeutet das einen Anstieg von 144,50 €, ohne dabei den Anstieg der Nebenkosten zu berücksichtigen.
In Köln ist die Nettokaltmiete pro Quadratmeter im Vergleich zu 2016 um 16,1 Prozent von 8,62 € auf 10,00 € gestiegen. Auch in Leipzig zeigt sich ein ähnlicher Trend: Die Angebotskaltmiete lag mit 8,36 € pro Quadratmeter im Jahr 2023 mehr als 20 Prozent über dem Wert aus dem Jahr 2018, und 5,7 Prozent höher als noch im Jahr 2022.
Zusätzlich scheint in manchen Städten die Wohnungssuche fast unmöglich. Zwar ist die Förderung des sozialen Wohnungsbaus ein zentraler Punkt der Agenda der Bundesregierung, doch neben der deutschen Bürokratie lässt auch die Baugeschwindigkeit aufgrund von Lieferengpässen, sich verteuernden Finanzierungen und Arbeitskräftemangel zu wünschen übrig.
Hilfsangebote leiden unter den bürokratischen Voraussetzungen und sind oft nur schwer verständlich. Notunterkünfte sind trotz der Lebenssituation der Betroffenen teuer, und dabei gleichzeitig häufig renovierungsbedürftig. Selbst Hilfsorganisationen haben Schwierigkeiten Wohnraum zu finden, den sie Bedürftigen zur Unterstützung anbieten können.
Und ein durchsetzbarer Anspruch gegenüber dem Staat auf eine Wohnung besteht erst recht nicht. Einen solchen sah auch der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil zu Codona v. the United Kingdom vom 7. Februar 2006 (No. 485/05) nicht – insbesondere sei die Bereitstellung von Wohnraum „eine politische und keine rechtliche Entscheidung“ (EuGH, Chapman v. the United Kingdom [GC], No. 27238/95, Rn. 99).
Wo aber bleiben die unantastbare Menschenwürde aus Art. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG, nach denen das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 23. Juli 2014 (1 BvL 10/12) die Verpflichtung des Staates, für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, bejaht?
Für die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz ist eine Unterkunft zwingend. Auch wenn dem Gesetzgeber hier ein großer Gestaltungsspielraum eingeräumt wird, muss sichergestellt werden, dass jeder das Recht auf eine Wohnung hat. Nur so kann auch das Recht der Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG für alle gewährleistet werden.