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Blaumachen oder Schwarzmalen – Karenztage wieder einführen?

Auf den ersten Blick ein typisches Sommerloch-Thema, also eines der Themen, die immer mal aufgegriffen werden, wenn die Nachrichtenlage jahreszeitengemäß dünn ist und der öffentliche Nachhall nach ein paar Aufgeregtheiten kurzfristig wieder verpufft. Nun haben wir aber Winter, die Nachrichten überschlagen sich und vielleicht ist das, was der Vorstandsvorsitzende der Allianz SE, Oliver Bäte, kürzlich in einem Interview mit dem Handelsblatt mitzuteilen hatte, zumindest mal einer Diskussion wert, auch wenn man der Forderung als solcher nicht unbedingt zustimmen muss.

Um was ging es in dem Interview?

Herr Bäte sah sich möglicherweise aus dem Kalkül des laufenden Wahlkampfes veranlasst, dem Handelsblatt ein paar sozialpolitische Postulate in die Feder zu diktieren. Neben der Forderung zur steuerlichen Entlastung mittlerer Einkommen durch Anhebung der Erbschaftssteuer („In dieser Frage stehe ich politisch ziemlich weit links.“), sorgte vor allem sein wiederum nicht unter dem Verdacht einer linken Gesinnung stehende Vorschlag zur Wieder-Einführung eines sog. Karenztages für mediale Aufmerksamkeit. Nach der von dem Phänomen hoher Krankenstände getragenen Meinung des Herrn Bäte sollen im Krankheitsfall die „Arbeitnehmer die Kosten für den ersten Arbeitstag selber tragen“, dies nach seiner Auffassung insbesondere im Hinblick auf die zum Jahreswechsel wirksam gewordenen Beitragserhöhungen. Bereits im Herbst des letzten Jahres hatte sich Oliver Bäte gegenüber demselben Blatt beklagt, dass die Wirtschaftskraft bei niedrigen Krankenständen nicht um 0,3 % gesunken, sondern um 0,5% gestiegen wäre. Dass das ein valide Einschätzung ist, darf man wohl bezweifeln. Während Herr Bäte von durchschnittlich 20 Krankheitstagen ausgeht, spricht die Techniker Krankenkasse in einer gesamtdeutschen Statistik für 2024 von 17,7 Tagen. Trotz unterschiedlicher Zahlenwerte dürfte aber unbestritten sein, dass die Krankenstände in den letzten Jahren durchaus angestiegen sind. Dem Vorstoß des Herrn Bäte ist mehr oder weniger deutlich der Vorwurf des „Krankmachens“ zu entnehmen. Nach einer Studie der DAK ist das aber nicht zutreffend. Ein Drittel der zusätzlichen Fehltage ergäben sich aus verstärkten Erkältungswellen und auch noch aus Corona-Infektionen und deren Nachwirkungen. Die Techniker Krankenkasse hat aber auch psychische Belastungsphänomene aus der Arbeitswelt als ursächlich ausgemacht. Eine wertschätzende Unternehmenskultur hätte deutlichen Einfluss auf das Wohlbefinden der Beschäftigten. Für einen systematischen Missbrauch sieht die Studie gerade keinen Anhaltspunkt. Der Präsident der Bundesärztekammer Reinhardt führt den statistischen Anstieg der Krankentage zu einem erheblichen Anteil auch auf die Einführung der elektronischen Krankschreibung zurück, wodurch eine zuvor nicht so exakte Erfassung möglich geworden ist.

Nach § 3 des Entgeltfortzahlungsgesetzes (EFZG) steht dem arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmer für die ersten sechs Wochen seiner Erkrankung eine ungekürzte Fortzahlung seiner Bezüge zu. Dies war nicht immer so, zumal zwischen der Gruppe der Angestellten und der Arbeiter differenziert wurde. Die Entgeltfortzahlung („Lohnfortzahlung“) nach immer noch aktueller Dauer und Höhe wurde für alle Beschäftigten dann im Jahre 1970 eingeführt. Eine wesentliche Änderung erfuhr das EFZG im Jahr 1996, als die dort geregelte Entgeltfortzahlung von 100% auf 80% gekürzt wurde. Allerdings nicht von langer Dauer, diese Regelung wurde von der Regierung Schröder zum 01.01.1999 wieder kassiert.

Aktuell zu der von Herrn Bäte aufgeworfenen Diskussion haben sich naturgemäß alle gesellschaftlich relevanten Gruppen, insbesondere Parteivertreter und Interessenvertreter der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberschaft geäußert. Klare Worte fand Dennis Radtke als Vorsitzender des CDA, dem sozialpolitischen Flügel der CDU. Er bewertet den Aufschlag des Herrn Bäte gegenüber dem Berliner Tagesspiegel als „gänzlich inakzeptabel“ und beanstandet zugleich „eine Kultur des Misstrauens gegenüber allen Arbeitnehmern.“ Ein besonderer Nachteil für Menschen mit kleinen Einkommen sei zu befürchten. Sein Parteifreund und Fraktionsvize Sepp Müller sieht in dem Vorschlag allerdings immerhin einen „altbewährten Ansatz“. Die SPD, so Martin Rosemann als Fraktionssprecher für Arbeit und Soziales, will hingegen am gesetzlichen Modell nicht rütteln und verwahrt sich gegen den unterschwelligen Vorwurf des Blaumachens. Das IG Metall-Vorstandsmitglied Urban setzt einen drauf und bezeichnet den Vorschlag als „unverschämt“ und fatal für die soziale Sicherheit. Die FDP hält sich bis auf ein paar Einzelstimmen ungewohnt zurück, obwohl das eigentlich eine Herzensthema sein müsste. Wir denken nur mal an den Vorschlag, die Wochenarbeitszeit unbezahlt um zwei Stunden zu erhöhen.

Um eine seriöse Diskussion zum Thema „Karenztage“ führen zu können reicht es wohl nicht aus, plakativ auf statistische Werte zurückzugreifen. Es müsste mal gefiltert werden, wieviel Tage der durchschnittlichen Krankheitsdauer tatsächlich in den Entgeltfortzahlungszeitraum fallen, denn dieser endet ja bekanntermaßen nach sechs Wochen, von der Statistik dürften aber auch Langzeiterkrankte erfasst sein. Es müsste auch eruiert werden, welchen Anteil die Kurzerkrankungen von bis zu drei Tagen an dem Gesamtvolumen haben. Innerhalb dieser Werte müsste dann ermittelt werden, welcher Anteil mutmaßlich auf „Blaumacher“ entfällt. Aus einer aktuellen repräsentativen Umfrage im Auftrag der Nachrichtenagentur dpa ergibt sich, dass ca. 29% der Befragten tatsächlich schon mal „blau“ gemacht hat, davon 62% wiederum letztmals vor mehr als einem Jahr. Jeder Fünfte der befragten Schwänzer gab an, sich im den vergangenen zwölf Monaten ohne tatsächliche Krankheit krankgemeldet zu haben, elf Prozent hingegen zwei- bis fünfmal, zwei Prozent sogar häufiger. Diese Erhebungen können also den hohen Krankenstand insgesamt nicht befördert haben.

Um dem Phänomen des „Blaumachens“ beizukommen, kann der Arbeitgeber nach § 5 EFZG verlangen, dass einzelne Arbeitnehmer bereits vor Ablauf von drei Krankentagen eine AU-Bescheinigung beibringen. Erst kürzlich hat das Bundesarbeitsgericht noch einmal darauf hingewiesen, dass solche Anordnungen mitbestimmungsfrei sind, wenn sie einzelfallbezogen erfolgen. Erst wenn systematisch und generalisierend für die Belegschaft oder Teile davon eine vorzeitige Nachweispflicht eingeführt werden solle, sind die Betriebsräte über § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG („Ordnung des Betriebes“) mit an Bord. Bevor die Arbeitnehmer in einer Art Generalverdacht zur Kasse gebeten werden, sollten vielleicht mal die rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden.
In einer ehrlichen Diskussion sollte auch nicht ausgeblendet werden, dass ein erheblicher Anteil von Krankenfehlstunden bereits durch Überstunden kompensiert wird. Nach den für 2023 ermittelten Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung wurden 1,3 Milliarden Überstunden geleistet, von denen 77,5 Mio. Stunden, somit mit 58,31 % zu mehr als der Hälfte, nicht bezahlt wurden. Pikanterweise besagen die Erstergebnisse des Mikrozensus 2023, dass ausgerechnet im Finanz- und Versicherungsbereich der Anteil an Überstunden am höchsten ist. Herr Bäte, bitte übernehmen Sie!

Fun Fact: Der Allianz-Chef bezieht derzeit laut der Nachrichtenagentur Reuter ein Jahresgehalt einschließlich Boni von 7,47 Mio €, somit 28.730,77 € täglich. Wer jetzt allerdings frohlockt, dass Herr Bäte für einen Karenztag zu einem dem Halbjahresgehalt eines Versicherungssachbearbeiters entsprechenden Betrages zur Kasse gebeten würde, irrt. Das EFZG findet auf sein Dienstverhältnis keine Anwendung.

Von Gero Riekenbrauck